Moral

Wie hältst du’s mit der Moral?

Wie begründen sich moralische Vorstellungen? Die Antwort auf diese Frage schien über Jahrtausende geklärt. Entweder wurden moralische Ansprüche von Gott diktiert, konnten aus der menschlichen Natur abgeleitet oder per Vernunft bestimmt werden. Damit waren sie legitimiert und galten absolut.
All diese drei Ursachen von Moral wurden im Laufe der Aufklärung jedoch infrage gestellt. Nur, wie kommen moralische Vorstellungen dann zustande, wenn sie nicht von Gott, der Natur oder der Vernunft determiniert werden?
Die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach. Die Quelle moralischer Vorstellungen ist das menschliche Denken. Menschen denken. Diese menschliche Tätigkeit bringt sie dazu, dass sie moralische Vorstellungen ausbilden.
Auch was Moral betrifft, gilt die Aussage des Aristoteles: Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Dieser anthropologische Gedanke bildet den Anfangssatz seiner Metaphysik. Er veranlasst ihn zu überlegen, wie Menschen in Form von Denken Zusammenhänge ausbilden. Ein Großteil seiner Schrift besteht aus der Lehre von dem unterschiedlichen Kategorien. Die Substanz, Eigenschaften, der Ort, die Zeit, die Quantität, die Qualität, die Relation, der Habitus, der Zustand, all diese Größen nutzen Menschen, um Zusammenhänge zu erkennen und zu stiftten.
Menschen streben von Natur aus auch nach moralischem Wissen. Sie wollen wissen, wie ihr Handeln gut, gerecht, sinnvoll für das Zusammenleben ist. Um dies zu bedenken, nutzen sie das, was sie sonst auch beim Denken leitet: die Gespräche mit anderen, das Wissen der Tradition, die Verarbeitung von Leiden und Unrecht, die Erfahrungen von Glück und Zufriedenheit. Um dies zu bedenken, nutzen sie selbstverständlich auch all die Kategorien, die ihr Denken grundsätzlich leiten.
Das letztere wird als Aspekt der Moral augenfällig, wenn man die unterschiedlichen Kriterien betrachtet, die ethische Konzepte definieren:

1. Der Ursprung: Determination und Absolutheit begründen Ge- und Verbote – Ethikkonzept: Du sollst! Deontologie
2. Der Ursprung: die Natur des Menschen
3. Der Zweck: die teleologische Ethik
4. Das Mittel
5. Die Zeit in Form der Wirkung: der Utilitarismus (der Nutzen) und der Konsequentialismus (die Folgen)
6. Die Zeit in Form des Strebens: die Strebensethik
7. Die Zeit in Form der Veränderung: die Prozessethik
8. Die Zeit in Form des Leidens: die Glücksethik
9. Die Zeit in Form der Nachhaltigkeit: das Begehren in der Zeit
10. Der Ort/die Lage: die Kontextualität des Ethischen
11. Der Habitus/die Sitten: die Moral
12. Vita activa – das Tun: die Ethik als Praktischen Philosophie
13. Die Quantität in Verbindung mit der Zeit: der Utilitarismus (der größte Nutzen für die meisten)
14. Die Qualität in Verbindung mit der Zeit: die Güterethik
15. Die Relationalität in Form zwischenmenschlicher Beziehungen/Pluralität: die Gerechtigkeit
16. Relationalität und Qualität:die Schönheit der Moral
17. Relationalität, Qualität und die Räumlichkeit des Begehrens: das sich Ausdifferenzieren und Verdichten des Guten
18. Relationalität in Form des Unterscheidens: die Kraft, Gutes und Böses, Gutes und Schlechter zu unterscheiden
19. Relationalität in Form des Extremen/Entgegengesetzten und des Pluralen: die Tugendethik
20. Die Differenz, die Kraft und die Qualität: das Gerechte im Lichte des Gutes

Moralische Konzepte folgen zentralen Kategorien des menschlichen Denkens, kombinieren und variieren diese.
Dabei gibt es noch einige Variationsmöglichkeiten, die nicht ausgeschöpft, nicht richtig verortet oder aber noch gar nicht ausgebildet sind. Durch die Gerechtigkeitsethik verändert sich zum Beispiel die Bedeutung des Relativen, weil dessen Maßstab nicht länger das Absolute ist. Sieht man in der Gerechtigkeit die leitende moralischen Größe, kann Ethik als Kunst des Relationalisierens und Relativierens verstanden werden.(1)
Durch die Beachtung der kategorialen Kontur des Moralischen verändern sich moralische Analysen ebenso wie die Einschätzung moralischer Erkenntnisse und Prinzipien. Beispielsweise wurde Hannah Arendt irgendwann klar, dass das Böse keine Ursache, keine Wurzel hat (Gott oder „den bösen Menschen“), sondern Böses die Folge von etwas Extremen ist. Vermutlich kam sie auf diesen Gedanken, als sie wieder einmal in das Fünfte Buch von Aristoteles Nikomachischer Ethik geschaut hatte. Als die zentrale Fragestellung der Gerechtigkeit stellt dieser Philosoph heraus: Die Aufgabe der Gerechtigkeit ist es, Extreme zu regeln bzw. zu verhindern.
Auch sein Lehrer Platon setzte ähnlich an. Platon beobachtet, dass eine Kultur scheitern muss, wenn sie einen einzelnen Wert absolut setzt. Jede Wertekultur braucht einen sie ergänzenden Wert, um nicht extrem zu werden. (2)
Geht man von diesem Zusammenhang aus, erübrigt sich die Frage, woher das Böse kommt, was seine Ursache ist. Man kann dennoch danach fragen, wie es zustande kommt. Was den präzisen Umgang mit ethischen Konzepten betrifft, so erweist sich das Böse als Problemstellung der Tugend- und der Gerechtigkeitsethik.
Nun kann man fragen: Ist Vernunft mit dem Denken nicht identisch? Betrachtet man die dargestellten Ethik-Varianten, stellt man fest, dass die unterschiedlichen Kategorien verschiedenartig ergänzt, kombiniert und eingesetzt werden können. Was wann wo wie von wem, in Bezug auf was und auf wen bedacht werden kann, das ist per rationalistischer Venunft nicht ableitbar. Diese hat ihre Grenzen. Hierfür braucht es den persönlichen Austausch zwischen Menschen. Diesen Austausch kann auch kein Gott ersetzen. Um den Unterschied zwischen Vernunft und Denken mit Hannah Arendt zu poientieren: Da, wo die Vernunft aufhört, da beginnt nicht der Glaube. Da beginnt das Denken. Das Denken als das Sammeln aus der Zerstreuung.
Aus der Zerstreuung so sammeln, dass es gut, gerecht ist und Sinn für das Zusammenleben der Menschen macht: darin besteht moralisches Denken, genau darin besteht die Aufgabe von Ethik und Moral.

(1) Diese Perspektive auf Moral und ethische Konzepte habe ich ausführlich vorgestellt in meiner feministischen Rekonstruktion der Ethik: Konzepte der Ethik – Konzepte der Geschlechterverhältnisse, Wien 2014, 47-76.
(2) Vgl. Andrea Günter: Wertekulturen, Fundamentalismus und Autorität. Zur Ethik des Politischen, erscheint Wien: Passagen-Verlag II/2017

Literatur:
Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2007.
Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, München 1994, 128-156.
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1972.
Aristoteles: Metaphysik, Stuttgart 1984.
Platon: Politeia, verschied. Ausgaben.